Jacques Audiards moderner Liebesreigen beginnt nicht mit Menschen, sondern mit kühlen Fassaden: Langsam gleitet die Kamera die Fenster der unromantischen Wohntürme des Pariser Neubau-Viertels "Les Olympiades" im 13. Bezirk entlang. Hinter jedem Fenster ein Schicksal, so suggeriert es dieser Filmbeginn.
Bei der Suche nach einem Mitbewohner trifft Émilie (Lucie Zhang) auf den Gymnasiallehrer Camille (Makita Samba). Zwei Wochen dauert die aufregende Affäre der beiden, bevor der bindungsscheue Mann wieder auszieht und die schüchterne Jurastudentin Nora (Noémie Merlant) kennenlernt. Die wiederum fühlt sich zum Camgirl Amber (Jehnny Beth) hingezogen. Drei Mädchen und ein Junge: Sie sind Freunde, manchmal Liebhaber, oft beides.
Audiards Liebespaare zeichnen sich oft durch Gegensätzlichkeit aus ("Der Geschmack von Haut und Knochen", "Emilia Pérez"). Sein neunter Langfilm basiert auf den in ihrer Unaufgeregtheit eigentlich als unverfilmbar geltenden Kurzgeschichten des New Yorker Comiczeichners Adrian Tomine. Herausgekommen ist ein abgeklärt-romantischer und doch lodernder Liebesfilm, der in den Wettbewerb von Cannes eingeladen und mit fünf César-Nominierungen bedacht wurde.
"Es ist eine kluge Entscheidung von Audiard gewesen, für das Drehbuch mit zwei Filmemacherinnen zusammenzuarbeiten, die sich in den letzten Jahren einen Namen als Erzählerinnen junger, weiblicher Perspektiven gemacht haben: Céline Sciamma, die mit 'Porträt einer jungen Frau in Flammen' vor drei Jahren in Cannes den Drehbuchpreis gewann und Léa Mysius, die 2017 mit dem ungewöhnlichen Coming-of-Age-Film 'Ava' debütierte.
Ihren Blick auf die jungen Figuren hat der Regisseur in wunderschöne, klare Schwarz-Weiß-Bilder übersetzt, die Erinnerungen an die Nouvelle Vague heraufbeschwören und trotzdem ganz im Hier und Jetzt bleiben. Nicht zuletzt wird die emotionale Ambivalenz seiner Figuren aber auch von den hinreißenden Darstellern getragen." (Annett Scheffel, auf: sueddeutsche.de)
„Audiards Film gibt sich nicht ohne weiteres als das zu erkennen, was er im Kern ist: eine Sittenkomödie. […] Insgeheim aber buchstabiert er ein zweites Thema der Moderne auf: die Identität. Sie steht nicht fest, ist brüchig und wandelbar. Nicht von ungefähr besucht Nora eine Vorlesung, in der es um die juristische und die moralische Person geht. […]
Im Schneideraum greifen Audiard und seine Cutterin Juliette Welfling auf lauter altgediente Stilmittel zurück – Irisblenden, Splitscreen, Zeitlupe –, die jedoch ganz frisch und geistesgegenwärtig eingesetzt sind. Die einzelnen Kapitel künden verschmitzte Zeitangaben an: Sie lauten »So fing es an«, »Einen guten Monat später« und zum Schluss »Sonntag«. Welches Versprechen in diesem Datum liegt, kann man sich schwer vorstellen. Man muss es sehen.“ (Gerhard Midding, auf: epd-film.de)